#12 Hokkaido: Nass, nackt und glücklich.

Splitterfasernackt sitze ich da, im Garten, im strömenden Regen, neben diesen ganzen Japanern, die natürlich auch alle splitterfasernackt sind.

Nass, nackt und fasziniert gucken wir gemeinsam diese japanische TV-Gameshow, die auf einem TV-Screen gezeigt wird, der über einem dampfenden Wasserbecken hängt.

Nicht fern von uns, nicht fern von diesem Becken und diesem Garten, schlagen Militär-Granaten ein.

Die lauten Explosionen rollen im Minuten-Takt zu uns rüber, donnergleich, es klingt etwas bedrohlich. Wirklich entspannend ist diese Situation jedenfalls nicht.

Ich lasse unauffällig meinen Blick ins Rund schweifen. Niemand der Nackten scheint sich an den Granatenexplosionen zu stören. Die TV-Gameshow scheint zu spannend zu sein. Sogar in der Sauna hängt ein Fernseher.

Ich muss grinsen - das Wort "absurd" wurde wohl für Momente wie diese erfunden. Und für Momente wie diese, nehme ich diese absurde Reise auf mich.

Passt also für mich.

Kaboooom - die nächste Explosion.
Das Thermalbecken scheint zu vibrieren.

Aber weder die lautstarken Übungen der japanischen Armee auf der angrenzenden Chitose Air Base, noch der prasselnde Regen, oder gar diese nervtötende TV-Gameshow kann diesen nackten japanischen Männern die Freude an ihrem Onsen-Spa verderben. Sie sitzen seelenruhig da, im heißen Becken, alle brav mit einem zusammengefalteten weißen Handtuch auf dem Kopf balancierend.

Das macht man so im Onsen. Granaten-Einschläge hin oder her. Und so mache ich das auch, hier in Hokkaido.

Hokkaido, etwas größer als Bayern, ist die zweitgrößte japanische Insel. Westlich, nördlich - und sogar etwas östlich: Russland.

Doch nun, Schnitt.
Ein paar Stunden früher, New-Chitose Airport, Hokkaido - ich bin sauer.

Sehr sauer. Am liebsten würde ich in diesen Holztresen beißen.
Der japanische Mietwagenanbieter hätte es verdient.

Bei aller Wut - ich zögere. Das würde mich in meiner Situation nicht weiter bringen und die Sache womöglich nur noch zusätzlich verkomplizieren. Vor allem, wenn ich mich hier vor Frust am Counter festbeiße und aus eigener Kraft nicht mehr los kommen würde.

Also lasse ich das. Und muss mir eingestehen, dass ich nicht sauer sein sollte auf diese stoische japanische Angestellte, sondern nur und ausschließlich auf mich selbst.

Anflug auf den New-Chitose Airport, Hokkaido - da war noch alles gut.

Ich atme kurz durch, sehe der japanischen Dame beim Telefonieren zu und denke nach. Eigentlich war auf meiner Reise bisher alles viel zu glatt gelaufen.

Immerhin bin ich seit fast zwei Monaten unterwegs und blicke nun zurück auf eine erfolgreiche Aneinanderreihung erbarmungslos eng getakteter Reisebewegungen, Transportmitteln, Abmachungen, Anschlüssen, Unterkünften und Timings.

Diese ersten zwei Monate waren bisher wie eine sorgsam designte Dominostein-Kette, einmal aufgestellt, angeschnippst und jeder Dominostein fiel wie geplant. Die perfekte Kettenreaktion.

Kein Bus wurde verpasst, nie bin ich in einen falschen Zug oder Boot eingestiegen oder an einer Station falsch ausgestiegen, kein Datum war falsch, keine Unterkunft war überbucht, von Bettwanzen befallen oder abgebrannt. Ich wurde weder von Killerwalen noch von Grizzly-Bären gefressen. Oder sonstiges. 

Es war eigentlich unglaublich.

Langzeitreise: Es könnte so viel schief gehen.... hier (fast) mein Airbnb in Seattle. Hatte die falsche Hausnummer...

Wer diese Art von Reisen kennt, weiß, dass es an ein Wunder grenzt, wenn über solch einen Zeitraum alle Faktoren wie Zahnräder ohne Reibungsverluste ineinander greifen. Denn der Teufel steckt oft im Detail.

Vor allem, wenn man es mit unterschiedlichen Sprachen, Schriftzeichen, Mentalitäten, Zeitzonen und Währungen zu tun hat - und wenn man immer wieder auch auf die Verlässlichkeit von fremden und unberechenbaren Personen angewiesen ist. Es war aber bisher alles überraschend astrein.

Doch nun erwischte es mich - und es lag an mir selbst:
Ich erlaubte mir den ersten handfesten Reise-Patzer.

Also eigentlich war mir der Patzer schon viel früher passiert, bei meiner grundlegenden Reiseplanung.

Um solch ein ambitioniertes Reisevorhaben, vor allem in dieser Intensität, durchführen zu können, musste man systematisch vorgehen und gut planen. Das war mir von Beginn an klar. So hatte ich entsprechend Listen und Ordner erstellt mit allen relevanten Dokumenten und Infos zu den jeweiligen Ländern. Einreisebestimmungen, Abläufe, Timings, Buchungsnummern, Gepäckbestimmungen und so weiter. Und ich hatte eine allgemeine ToDo-Liste mit mehreren hundert Punkten, die über viele Monate hinweg abgearbeitet werden mussten. 

Einer dieser Punkte war die Beantragung des internationalen Führerscheins, damit ich im Ausland legal (und vor allem versichert) Mietwagen fahren darf. Das war ein wichtiger Punkt auf meiner Liste und ich hatte ihn dementsprechend auch ordentlich abgearbeitet und abgehakt.

Aber anscheinend gibt es auch exklusive Länder, die nichtmal den internationalen Führerschein anerkennen. Das lerne ich gerade, und zwar hier und jetzt und auf die harte Tour. Hier, an dieser Mietwagenbude, mit diesem zum Anbeißen verlockend wirkenden Holztresen, in Sapporo, in Hokkaido.

Letztendlich muss ich einsehen: Der internationale Führerschein wird in Japan nicht akzeptiert, sondern nur der deutsche Führerschein. Der deutsche Führerschein, der allerdings in einer vom japanischen ADAC (JAF) beglaubigten japanischen Übersetzung vorliegen muss.

Das ist relativ lustig, weil, wenn man sich den deutschen Führerschein mal genauer anschaut, es eigentlich gar nicht viel zu übersetzen gibt - außer die Worte "Führerschein" und "Bundesrepublik Deutschland", sowie die Führerscheinklasse - und das ist ein einzelner Buchstabe. Der Rest sind Zahlen, die eigentlich keine Übersetzung brauchen, zumal im digitalen Zeitalter.

Aber wirklich lustig finde ich das gerade hier überhaupt nicht und mit Diskussionen - und meinem nicht ganz ernst gemeintem Angebot meine Übersetzungsapp für den Führerschein zu nutzen - komme ich nicht weiter.

Die offizielle japanische Übersetzung muss also her. All das kostet jetzt Zeit, Geld und Nerven. Aber es hilft einfach nichts. Man muss sich dem peniblen japanischen Verwaltungsapparat beugen.

Oder zu Fuß gehen. Aber das ist für mein Vorhaben keine Option.

In der Folge verliere ich einen Reisetag, muss mich durch wirr übersetzte japanische Behörden-Websites klicken, den Führerschein im Supermarkt am japanisch-sprachigen Automaten ausdrucken und zu guter Letzt meinen Reiseplan etwas ändern.

Spontan-Übernachtung in Chitose: Am Horizont warten schon die Berge Hokkaidos.

Frühstück in Japan: Räucherfisch, Miso-Suppe, eingelegtes Gemüse, Fischeier, Reis  

Aber auch, wenn es absurd klingen mag, ich möchte diese Erfahrung nicht missen. Erstens ging das Prozedere den Umständen entsprechend relativ schnell und zweitens habe ich viel gelernt. Über Japan und über mich und meine doch nicht so ganz perfekte Reisevorbereitung.

Und außerdem endete ich nur wegen der Führerscheinsache in diesem verregneten Onsen mit den nackten Japanern und den Granaten-Einschlägen und der TV-Show. Und das war mir ein Fest!

Doch nun geht es endlich los: Geplant ist mit Freunden die Bergwelt von Hokkaido und die japanischen Alpen von Honshu zu erkunden, die Herbstfarben zu genießen (“Momiji”) und ein paar heiße Quellen zu besuchen um dort zu baden, ganz traditionell. Und wahrscheinlich ist auch das ein oder andere kulinarische Schmankerl dabei.

Endlich: eine neue Miet-Möhre, dieses Mal Rechtslenker.

Es ist eine zweistündige Fahrt vom Flughafen New-Chitose auf den Schnellstraßen E5 und 12, wenn man ohne Zwischenstopps durchfahren würde.

Linksverkehr, aber gechillt, weil alle japanisch-brav: Autofahren in Hokkaido.

Auf dem Weg in den Norden, von Chitose nach Pippu.

Ganz lustig: Warum hat Japan Linksverkehr?

Japan hat den Linksverkehr aus mehreren historischen und praktischen Gründen eingeführt. Ursprünglich stammt diese Praxis aus der Zeit der Samurai, die beim Reiten auf der linken Seite gingen, um ihre Schwerter auf der rechten Seite zu tragen, damit sie schnell ziehen konnten.

Im 19. Jahrhundert, als die Eisenbahnen eingeführt wurden, orientierte man sich an dieser Tradition und entschied, die Züge auf der linken Seite fahren zu lassen. Später wurde der Linksverkehr auch auf Straßenfahrzeuge übertragen.

Ein weiterer Grund ist die Standardisierung des Verkehrs, um Unfälle zu vermeiden, da viele Länder, die Japan beeinflussten, ebenfalls Linksverkehr hatten. Diese Tradition blieb bis heute bestehen und ist ein fester Bestandteil des japanischen Verkehrs.

Tankstopp auf Japanisch, halb so wild wie man vermuten könnte.

Auf dem Weg in den Norden, nach Asahikawa und Pippu, kommt man an einigen heiligen Orten und Schreinen vorbei. Mehr als einmal muss natürlich gehalten werden für ein paar Fotos, hier bei dem Biei-Shrine.

Nicht mehr lange, noch etwas im Linksverkehr durch Asahikawa schlängeln und schon ist Pippu erreicht. Pippu - ein kleines Kaff mit nicht einmal 4.000 Einwohnern, zentral gelegen in Hokkaido und somit relativ nahe am Daisetsuzan-Nationalpark, der Vulkane und ein paar schneebedeckte Zweitausender vorweisen kann und auch sonst superschön sein soll, vor allem jetzt, im Oktober.

Pippu: Provinzielle Landwirtschaft und Schneegipfel. Skigebiete liegen direkt ums Eck.

Ich lenke die Möhre runter von diesem kleinen asphaltierten Weg, direkt auf eine Wiese und parke unter ein paar Bäumen auf diesem Privatgrundstück, direkt vor der Hütte.

Die Unterkunft ist ein traditionelles japanisches Landhaus.
Darauf hatte ich mich schon lange gefreut!

Japanische Häuser in traditioneller Bauweise (Kominka) findet man überall in Japan. Die Häuser werden in vier Kategorien unterteilt: Bauernhäuser (Nōka), Stadthäuser (Machiya), Fischerhäuser (Gyōka) und Berghütten (Sanka).

Diese Hütte hier, am hügeligen Waldrand nahe Pippu, ist wahrscheinlich eine Mischung aus Nōka und Sanka, schwer zu sagen. Aber leicht zu mögen.

Authentische Unterkunft am Waldrand: ein Japanisches Landhäuschen

Knarrend öffnet sich die Eingangstür, ich lasse den Blick umher schweifen.

Das Nōka/Sanka ist minimalistisch und rudimentär ausgestattet, ästhetisch ansprechend. Kaum Plastik, überwiegend natürliche Materialien. Es riecht total verraucht, eine Feuerstelle liegt zentral im Raum.

Der Wohnbereich mit Esstisch auf dem Boden.

Könnte kaum japanischer sein. Wenn auch etwas verraucht, die Hütte.

Das gesamte Haus besteht eigentlich nur aus einem großen Raum, der drei Ebenen hat. Der Eingangsbereich und die kleine Küche liegt ebenerdig, Steinboden. Dann geht es eine kleine Stufe hoch auf die mittlere Ebene, Holzboden. Hier liegt die viereckige Feuer-, Grill- und Kochstelle und auch das Badezimmer. Auf der obersten Etage liegt dann der Ess- und Wohnbereich und die Schlafzimmer. Für die beiden oberen Ebenen gibt es Hausschuhe, auf der unteren bewegt man sich mit Schlappen über den Steinboden. Im Badezimmer gibt es natürlich Badezimmer-Schlappen. Auch das ist typisch für Japan. Und diese Ebenen-Konstruktion verhindert, dass Dreck von draußen oder Asche von drinnen bis hoch in den Essbereich oder gar ins Futon-Bett gerät. Allerdings ist man dauernd am Schlappen-Wechseln, etwas umständlich…

Schlafbereich mit Futon-Betten, durch Papier-Schiebetüren abgegrenzt.

Dem Esstisch-Konzept gebührt besondere Aufmerksamkeit: Kniehöhe wäre übertrieben, Stühle gibt es nicht, zumindest nicht wie man sie als Europäer kennt. Seine Beine schiebt man unter eine Heizecke, die unter dem Tisch angebracht ist. Das ganze heißt Kotatsu und man gewöhnt sich recht schnell daran. Vor allem, weil es jetzt hier im Oktober schon herbstlich kalt ist auf Hokkaido.

Kotatsu: Tischplatte, Tischgestell und eine Heizdecke.

Der Ersteindruck des Landhauses gefällt sehr! Das hier ist nicht das Hilton, aber sehr zum Wohlfühlen - und definitiv eine authentische Erfahrung! Daran ändert auch der wiederkehrende Besuch der Fledermaus nichts, die nachts gerne durch die Hütte und tief über die Futon-Betten flattert.

Die Lage des Landhauses ist einfach top: Einerseits abgeschieden und in der Nähe der Nationalparks zum Wandern, andererseits auch nicht weit von der Großstadt Asahikawa. Hier gibt es Infrastruktur und vor allem viele japanische Supermärkte, die für sich schon ein Highlight sind. Und natürlich sind sie mit ihrer Auswahl an Lebensmitteln mit unfassbarer Qualität perfekt um die Grill-Sessions anzugehen.

Asahikawa: Auf dem Weg in den Supermarkt, die Sonne sinkt, die Vorfreude steigt.

Penibel drapiert, bis auf's Gramm gleich: Makrelen-Kollektion im Kühlregal.

Mit exakt herausgearbeiteter, scharfer Kante: Japanischer Lachsfilet-Block.

Die Versorgung mit allerlei Delikatessen funktioniert also sehr gut und so werden die BBQ-Sessions im Landhaus wohl legendär. Gegrillt wird natürlich im Wohnzimmer.

Allabendliche Grillparty auf der Indoor-Feuerstelle des japanischen Landhauses.

Ich hatte das Kochen und das Grillen in den letzten Wochen richtig vermisst. Seit Kanada ging nichts, also schlage ich jetzt wieder zu, und zwar so richtig:

Zart schmelzendes Hokkaido-Rindfleisch in Teriyaki-Sauce, Thunfischfilets in japanischer Champions League Qualität - natürlich pur auf dem Grill oder roh als Sashimi-Vorspeise - zusammen mit den Edamame-Bohnen, dazu Riesenshrimps in Chilli-Marinade, lokale Würstchen aus Asahikawa, außerdem gegrillte rote Beete mit schmelzendem Ziegenkäse und gelbe Beete mit Paprika und Tomaten, Oktopus in Ingwer-Soja-Marinade, mediterran gewürzte Auberginen, Knoblauch-Baguette und dazu ein knackiger japanischer Algen-Salat…

Endlich mal wieder Grillen - und dann gleich im eigenen Wohnzimmer, am wärmenden Feuerchen. Oh ja - das gefällt mir!

Atmosphärisch und kulinarisch ist Hokkaido also schonmal ein Knaller, aber bei den ganzen Grill-Eskapaden darf natürlich der sportliche Ausgleich nicht fehlen. Und wir waren ja nicht zum Grillen nach Hokkaido gekommen… sondern zum Hiken und die Natur zu erkunden.

Hokkaidos aufregende Bergwelt ruft!

Auf geht’s in die Vulkan- und Bergwelt von Hokkaido, auf geht’s in den Indian Summer, mit Schluchten und Wasserfällen, auf geht’s in den Daisetsuzan-Nationalpark mit seinen Zweitausendern!

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#13 Hokkaido: Vulkane, Eiswald und der Momiji

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#10 Jeju Island: Abenteuer mit und ohne Tiefgang